
Die Grundlage eines sinnvollen Engagements zwischen Religion und Naturwissenschaft
Vortrag für den RSNG-Jahreskongress der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart. 28.-30. September 2012
Zunächst möchte ich mich für die Gelegenheit bedanken, wieder bei Ihnen sein zu dürfen, um neue Perspektiven kennen zu lernen und meine Kompetenzen zu erweitern. Ich habe mich hier sehr wohlgefühlt und möchte die Gelegenheit nutzen, um mich bei den Referenten, den Teilnehmern und den Organisatoren des Treffens zu bedanken. Es ist für mich eine Ehre eingeladen worden zu sein und heute zu Ihnen sprechen zu können.
Ich wurde darum gebeten, im Dialog zwischen Religion und Naturwissenschaft globale Perspektiven zu erörtern. Ich werde auf Religion und Naturwissenschaft, die beide in ihren Erscheinungsformen äußerst vielfältig sind, zunächst getrennt eingehen.
1. Der Stand der modernen Naturwissenschaften
Wie die Religionen sind auch Natur- und Geisteswissenschaften vielfältig, doch anders als diese tendieren die Wissenschaften innerhalb ihrer Gebiete zu einem Konsens. Natürlich gibt es zahlreiche Meinungsverschiedenheiten; außerdem können einige Wissenschaftler genauso dogmatisch, unangenehm, sowie übel sein wie jedermann auf diesem Planeten. Trotz Macht, Ruhm, und Vermögen, die sie teilweise motivieren, und trotz der in sie involvierten komplizierten Persönlichkeiten, ist es das Geheimnis der Wissenschaften, dass sie kumulativ fortschreiten. Religiöse Unterschiede und Meinungsverschiedenheiten beinhalten dagegen nicht unbedingt eine derartige Dynamik.
Der wissenschaftliche Konsens wird anschließend in Fachbüchern kodifiziert, die das gesammelte Wissen einer Zeit beinhalten und die Grundlage für die Ausbildung neuer Generationen von Wissenschaftlern sowie die Basis für Entdeckungen an den Grenzen von Wissen und Können bilden. Wissenschaftler sind immer Spezialisten, sogar wenn ihre Spezialisierung die interdisziplinäre Zusammenarbeit in immer größeren Forschungsteams fordert. Wie in Industrie und Geschäftswelt haben Spezialisierung und Arbeitsteilung zu einer explosionsartigen Vermehrung von Erkenntnissen geführt, so sehr, dass der Erfolg der Wissenschaften inzwischen regelrecht zu einem Problem für die exponentielle Erweiterung des Wissens geworden ist.
Und obwohl wir uns alle bei dem Thema „Methode und Reichweite der Naturwissenschaften“ versammelt haben, möchte ich betonen, dass es weder die wissenschaftliche Methode noch eine verallgemeinerungsfähige philosophische Formel, wie man Wissenschaft betreiben soll, gibt; noch gibt es eine einfach zu definierende ‚hypothetisch-deduktive Methode‘, die auf alle Bereiche und Unterbereiche anwendbar wäre. In Wahrheit gibt es Tausende von Methodologien, die von den Phänomenen selbst vorgegeben werden und die durch eine sehr spezifische Frage in ihrem Anwendungsbereich begrenzt sind. Wenn es demnach keine eindeutige Epistemologie gibt, die es erlaubt, wissenschaftliches von unwissenschaftlichem Vorgehen zu unterscheiden, was ist dann eigentlich ‚die Wissenschaft‘?
In meinem kürzlich erschienenen Buch mit dem Titel The New Sciences of Religion versuche ich eine neue Definition von Wissenschaft zu geben.
Wissenschaft (1) beinhaltet verschiedene Methoden, um strukturierte Phänomene zu entdecken und Kausalbeziehungen zu erklären; (2) wird von Gemeinschaften von Spezialisten (3) in einer Art gründlichem “Dialog” oder Zwiegespräch mit den Phänomenen angewandt; (4) ist immer eingebettet in und begrenzt durch einen lebensweltlichen Kontext; (5) führt zu einem sich selbst korrigierenden, sich selbst überschreitenden und voranschreitenden Lernprozess, der (6) den Anspruch auf objektiv gültige Wahrheiten erhebt; (7) beruht auf Tatsachen, die pragmatisch aufgrund praktischer Anwendungen verifiziert (8) und kumulativ in einem einheitlichen Theoriezusammenhang miteinander verknüpft werden, (9) der hierarchisch aufgrund der Chronologie des Entstehens, von Größenordnungen und Komplexitätsgraden organisiert werden kann.
Obwohl die Naturwissenschaft, so das Argument in meinem Buch, nicht länger als eine privilegierte Epistemologie angesehen werden kann, handelt es sich doch um einen einheitlichen Theoriezusammenhang – um ein Wissen also, das sich selbst als privilegierte Metaerzählung präsentiert. Meine Antwort auf das Tagungsthema ist, dass es keine einheitliche Methode der Wissenschaften gibt, aber doch eine imposante Reichweite.
Die neue evolutionäre Kosmologie beruht auf dem akkumulierten Wissen unterschiedlicher Disziplinen. Carl Friedrich von Weizsäcker hat bemerkt, dass “für Philosophen die bedeutendste Entdeckung der modernen Naturwissenschaften die Entdeckung der Geschichte der Natur ist.“ Viele sprechen daher von der ‘Großen Geschichte‘ oder ‚Big History’.
Wir können das fünfbändige Werk des deutschen Naturforschers und Entdeckers Alexander von Humboldt mit dem bezeichnenden Titel Kosmos als einen der ersten Versuche würdigen, Kosmologie, Geologie, Biologie und die Humanwissenschaften zu integrieren. Seither haben die Wissenschaften große Fortschritte gemacht. Diese Große Geschichte beinhaltet auch die der Menschen – inklusive ihrer Religionen und Kulturen.
Wir müssen die Erzählung mit dem wunderbaren Gewebe des etwa 13,8 Milliarden Jahre alten Universums beginnen, wie es von den Wissenschaften derzeit erklärt wird, und uns dann den Herausforderungen einer kritischen Hermeneutik zuwenden. Wir verstehen die Epistemologie immer als kontextuell und pragmatisch. Die wahre Herausforderung besteht heute darin, eine empirisch fundierte Metaphysik zu entwickeln. Dazu bedarf es einer universalen wissenschaftlichen Bildung von großer Breite und Tiefe. Zum Beispiel eine Metaphysik allein auf das Studium der Quantenphysik oder der Biochemie zu stützen, wäre inadäquat und irreführend. Eine adäquate Metaphysik fordert auch ein profundes Verständnis der historischen, globalen und evolutionären Zusammenhänge, in der sich die Menschheit selbst gerade befindet.
Die Grenze zwischen wissenschaftlichen Tatsachen und ihrer Interpretation mag schwer zu überwachen sein, aber es ist wesentlich, dass wir diese Unterscheidung aufrechterhalten. Die Wissenschaften benötigen keinen Szientismus. Die Anwendung eines methodologischen Reduktionismus bedeutet nicht notwendig einen philosophischen Reduktionismus. Und der philosophische Materialismus hat sich in der Teilchenphysik selbst dekonstruiert. Die Interpretation von wissenschaftlichen Tatsachen ist, sowohl in Hinblick auf einzelne Aspekte wie in Bezug auf die gesamte Schilderung, für zahlreiche Strategien offen. Ich stelle sechs mögliche Lesarten der neuen Metaerzählung einander gegenüber:
1) Die stoische und existentialistische Lesart
2) Den Evolutionären Theismus, sowie die Evolutionäre Spiritualität
3) Die öko-romantische Lesart
4) Die Techno-Utopie
5) Die Auffassung des Libertarismus und des freien Marktes
6) Und schließlich die „rationale Symbiose”, mithin einige Versionen des demokratischen Sozialismus oder sogar Staatskapitalismus.
Was mich interessiert ist einerseits, wie jede von ihnen ihre eigene Ideologie in den Begriffen der Großen Geschichte ausgestalten kann, und andererseits, wie die Große Geschichte dazu beitragen kann, zwischen diesen verschiedenen Weltsichten und Handlungsweisen zu vermitteln. Unsere globale Zivilisation ist unfähig, ohne ein Verständnis der „Großen Geschichte“ die „Großen Probleme“ und die „Großen Fragen“ des 21. Jahrhunderts sinnvoll zu erörtern.
2. Die Vielfalt religiöser Ausdrucksformen
Es gibt nicht nur eine Religion, sondern viele. Dabei handelt es sich längst nicht mehr nur um eine globale Dimension, sondern durch Migration und Konversion zunehmend auch um eine lokale. Doch nach wie vor ist die Art und Weise, in der wir Religionen nach dem Leitmodell der großen Traditionen einordnen, äußerst unzureichend. In der Regel unterscheiden wir die abrahamitischen Religionen, also Judentum, Christentum und Islam; die östlichen Religionen, vor allem Hinduismus, Buddhismus und die chinesischen Traditionen; und schließlich die lange Liste ursprünglicher Religionen und neureligiöser Bewegungen. Keine dieser Traditionen ist homogen; jede von ihnen beinhaltet wiederum eine große Vielfalt von Glaubensüberzeugungen und religiösen Praktiken. Psychologie, Soziologie, Ökonomie, Politik, sogar Neurologie und Biologie deuten an, dass die Unterschiede innerhalb der größeren Traditionen oft größer sind als die zwischen verschiedenen Traditionen. Um es noch einmal zu verdeutlichen: Innerhalb des Christentums ist die Ungleichheit zwischen verschiedenen Formen der Frömmigkeit, ihrer Funktion und den religiösen Praktiken größer als zwischen Christentum und beispielsweise dem Buddhismus. Diesen Gedanken habe ich auch in meinem Buch „The New Sciences of Religion“ detailliert entwickelt.
Die deutsche akademische Tradition, der die Welt durch Spezialisierung und Arbeitsteilung viele Erkenntnisse verdankt, schuf auch die Unterscheidung zwischen Theologie und Religionswissenschaften. Die theologische Forschung geht von dem Bekenntnis zu einer religiösen Tradition und einem heiligen Text aus. Vor allem zur biblischen Tradition entwickelt sich seit der Aufklärung eine enorme Fülle philologischer, archäologischer und historischer Untersuchungen. Grundsätzlich kann freilich jeder heilige Text Gegenstand einer historisch-kritischen Auslegung sein. Auch in dieser Hinsicht verdanken wir der deutschen Wissenschaftstradition viel, da sie den Weg für die historisch-kritische Interpretation der Bibel zunächst gebahnt und diese dann entwickelt hat.
Im Gefolge der historisch-kritischen Exegese kann die Theologie zwei Richtungen einschlagen: Der eine Weg führt zur Apologie. Der heilige Text und die Tradition werden streng innerhalb eines konfessionellen Rahmens interpretiert. Rationale Argumente werden nur verwendet, um Glaubensüberzeugungen zu unterstützen und sie in einer Welt, in der viele Ideen und Glaubensrichtungen miteinander konkurrieren, zu rechtfertigen.
Der andere Weg führt zu der Überzeugung, dass es sich bei den Religionen um ein historisches Phänomen handelt, um Manifestationen der sich immer weiter entwickelnden kulturellen Artefakte und der Lebenswelt. Die Religionswissenschaften nehmen dieses als selbstverständlich an.
Die historisch-kritische Perspektive begreift die Bibel als eine Textsammlung, die aus früheren Schichten der jüdischen Tradition zusammengestellt wurde, die ihrerseits wiederum von den Quellen anderer Kulturen in der Umgebung gespeist wurden; außerdem, so die Überzeugung, enthält sie Passagen, die bewusst von unwissenden Priestern und Schriftgelehrten im Dienst politischer und theologischer Ziele über viele Generationen eingefügt wurden. Die biblische Redaktionsgeschichte ist daher eine Art „stiller Post“, in der wirkliche Personen und tatsächliche Ereignisse mit phantastischen Schilderungen und haltlosen Vorstellungen vermischt sind. Was in den meisten Fällen als mündliche Überlieferung begonnen hat, wurde irgendwann in einzelnen Abschnitten niedergeschrieben; weitere Veränderungen entstehen durch zahllose Generationen von Schriftgelehrten, die den Text immer wieder abschreiben und herausgeben. An diese Fragmente erinnern sich die nachfolgenden Generationen aufgrund ihres eigenen, spezifischen Interesses, so dass sie selektiv erhalten bleiben. Irgendwann wird diese Textsammlung als in sich geschlossener und verbindlicher heiliger Text herausgegeben.
Die historisch-kritische Exegese behandelt die Bibel, und damit jede andere heilige Schrift, als einen Text, der von Menschen unter bestimmten historischen Umständen und innerhalb eines besonderen kulturellen Kontextes verfasst wurde, um unterschiedlichen Interessen zu dienen. Eine sorgfältige philologische Analyse der alten Sprachen wird mit archäologischen und historischen Forschungen verbunden, um die Autorschaft und die Zwecke der verschiedenen biblischen Textpassagen zu klären. Unter dieser Perspektive ist die Bibel mindestens ebenso sehr ein politisches und ideologisches Dokument wie ein spirituelles und philosophisches. So ist sie zwar von großer historischer Bedeutung, aber an sich ist sie kein wirklicher historischer Bericht. Das steht in scharfem Kontrast zu einem Verständnis der Bibel oder einer anderen heiligen Schrift als unfehlbarem Gotteswort, von dem religiöse Fundamentalisten ausgehen. Fundamentalisten lehnen daher eine historische Interpretation heiliger Schriften ab.
Die historisch-kritische Betrachtung der Religion untergräbt das traditionelle Glaubens- und Geschichtsverständnis und ist eine viel größere Bedrohung des religiösen Traditionalismus als es die Naturwissenschaften für sich allein genommen je sein könnten.
Liberale Religionen dagegen können die Historizität der Religionen akzeptieren, deren Erkenntnisse aufgreifen und so gut wie möglich in ihre Glaubensperspektive integrieren. Sie tendieren notwendigerweise zu einem Universalismus und der Wertschätzung anderer Traditionen sowie den Wissenschaften. Das eigentlich Befremdliche ist, warum fundamentalistische Bewegungen im Moment wieder aufflammen, obwohl sie intellektuell unbefriedigend sind und ihre Aussagen keinerlei Plausibilität haben.
Obwohl es etliche Theorien über die Anziehungskraft fundamentalistischer Glaubensrichtungen und Kulte gibt, möchte ich an dieser Stelle nur einen kurzen Blick auf das neueste Buch von Steven Pinker mit dem Titel „Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit“ (orig: The Better Angels of Our Nature: Why Violence Has Declined) werfen. Pinker dokumentiert ausführlich eine auffällige Verringerung zwischenmenschlicher und politischer Gewalt während der letzten Jahrzehnte und erörtert die Gründe für dieses Phänomen. Seiner Meinung nach gibt es fünf innere Dämonen, die die Ursache dafür sind, dass Gewalt zu einem entscheidenden Muster der Menschheitsgeschichte wurde. Es handelt sich um folgende Aspekte:
- Räuberische oder ausbeuterische Gewalt
- Herrschaftsstreben
- Rache
- Sadismus
- Ideologie
Für Pinker sind Religionen gefährliche Ideologien, die während der gesamten Menschheitsgeschichte gewaltsame Konflikte zwischen Gemeinschaften geschürt haben. Pinker schreibt:
“Gefährlich werden Überlegungen über Mittel und Zweck, wenn das Mittel zu einem glorreichen Zweck darin besteht, anderen Menschen Schaden zuzufügen. Dass der Zug der Theoriebildung in diese Richtung fährt, wird unter Umständen durch die Konstruktion unseres Geistes begünstigt: durch sein Streben nach Dominanz und Rache, durch unsere Gewohnheit, anderen Gruppen ein gemeinsames Wesen – insbesondere als Dämonen oder Gewürm – zuzuschreiben, durch unseren dehnbaren Kreis des Mitgefühls und durch die selbstwertdienlichen Vorurteile, derentwegen wir unsere Weisheit und Tugend übertreiben. Eine Ideologie kann einen befriedigenden Zusammenhang herstellen und damit chaotische Ereignisse oder kollektives Unglück so erklären, dass es der Tugend und den Fähigkeiten der Gläubigen schmeichelt, während der Erklärung aber gleichzeitig so vage oder verschwörerisch bleibt, dass sie skeptischen Untersuchungen standhält. Verbinden sich diese Zutaten im Geist eines Narzissten mit einem Mangel an Mitgefühl, einem Bedürfnis nach Bewunderung und Phantasien von unbegrenztem Erfolg, Macht, Größe und Güte, kann das Ergebnis der Drang zur Umsetzung eines Glaubenssystems sein, das zu millionenfachem Tod führt.“ (897f.)
Genau aus diesem Grund stürzen und scheitern Religionen immer wieder allen edlen Lehren zum Trotz. Um diesen Gefahren bei sich und anderen vorzubeugen, sollte man sich die Mühe machen, die Währung von Angst und Hoffnung, Gefahr und Versprechen sowie von Kontinuität und Wandel auf dem Markt der Religionen, Ideologien und Philosophien zu verstehen.
Unsere menschliche Natur ist Teil des Problems, aber auch Teil seiner Lösung. Pinker zählt “vier bessere Engel” auf, die darauf hinwirken, unsere destruktiven Leidenschaften zu mildern und zu überwinden:
- Empathie,
- Selbstbeherrschung,
- Moralgefühl und die
- Vernunft.
Unsere inneren Dämonen und unsere besseren Engel ringen seit Jahrtausenden miteinander. Deshalb ist es unerklärlich, warum wir seit vergleichsweise kurzer Zeit einen starken Rückgang der Gewalt beobachten können, eine Tatsache, die Pinker auf hunderten von Seiten mit empirischen Studien belegt. Seiner Meinung nach haben in der Moderne fünf historisch wirksame Kräfte zwar nicht zu einer Veränderung der menschlichen Natur, aber ihrer Ausdrucksformen geführt. Es handelt sich um folgende fünf Kräfte:
- Der Leviathan — die Staatsgewalt und die Herrschaft des Gesetzes
- Wirtschaftliche Zusammenarbeit — die Win-Win-Struktur der Ökonomie
- Feminisierung — die Stärkung der Stellung der Frauen in der Gesellschaft
- Weltbürgertum — Migration, Reisen, Medien, Globalisierung, und Mischehen
- Beförderung der Vernunft — rationales Denken verstärkt sich selbst
Liberale Religionen schätzen und fördern diese fünf historischen Kräfte zusammen mit den vier besseren Engeln. Doch die liberalen Religionen befinden sich ihrerseits im Niedergang, da die Religionen nun auf einem globalen Markt um die Herzen und den Geist ihrer Anhänger wetteifern. Religiöse Exklusivität ist eine wichtige Marketing-Strategie in einer von Wettkampf geprägten Atmosphäre. Der Anspruch auf Ausschließlichkeit benutzt unsere Stammesinstinkte, maximiert den Gruppenaltruismus und minimiert die Zahl der Überläufern und Abtrünnigen innerhalb der Gruppe. Ein religiöser Ausschließlichkeitsanspruch passt zu der “Konstruktion unseres Geistes”, die “selbstwertdienliche Vorurteile, derentwegen wir unsere Weisheit und Tugend übertreiben“ (a.a.O. 898), fördert, wie Pinker formuliert. Außerdem benötigt das Aufrechterhalten eines Ausschließlichkeitsanspruchs Feinde, egal ob wirkliche oder erfundene.
Liberal eingestellte Gläubige neigen zu einer universalistischen Einstellung; für sie ähneln die Religionen den Sprachen: Wir können mehrere Sprachen sprechen, aber wir bevorzugen diejenige, in der wir zu Hause sind und die wir vollkommen beherrschen. Einerseits wollen wir, dass das Projekt der Aufklärung weiter geht, andererseits schätzen wir noch immer die Rede von Transzendenz und Transformation und schöpfen Kraft aus ihr. Liberale Religionen gedeihen nicht in einem globalen Kontext, der nun durch die Vielzahl religiöser Gruppierungen auch zum lokalen Lebensumfeld gehört.
Werfen wir einen kurzen Blick auf die Situation in den Vereinigten Staaten: In ihrem Buch mit dem Titel American Grace: How Religion Divides and Unites Us, untersuchen die Soziologen Robert Putnam und David Campbell die Religiosität in den USA. Die drittgrößte Gruppe besteht heute aus denjenigen, die sich keiner religiösen Gruppierung zugehörig fühlen. Sie umfasst etwa 17 bis 22 Prozent der Gesamtbevölkerung. Zahlenmäßig übertreffen sie damit die Mitglieder der dominierenden protestantischen Kirchen (Mainline Protestant Churches). Putnam und Campbell nennen sie die “nones”, die ‚Nichtse‘, die an nichts gebunden sind; dennoch ist diese Gruppe ein Indiz für eine sehr interessante, grundlegende Verschiebung in der amerikanischen Form der Religiosität.
Die “Nones” sind in der überwältigenden Mehrzahl weder Atheisten noch Agnostiker. Sie verstehen sich als „spirituell, jedoch nicht als religiös“ – eine Aussage, die sich bei Putnam und Campbell zwar nicht findet, die jedoch den Sachverhalt am besten trifft. Ihre Zahl wächst sowohl in den geburtenschwachen wie geburtenstarken Jahrgängen bereits seit drei Generationen stetig. In den 1950ern bildeten die “nones” nur 3 bis 5 Prozent der Bevölkerung; unter denen, die zwischen 1990 und 2000 erwachsen wurden, verstehen sich dagegen ungefähr 25 Prozent als keiner Religion zugehörig.
Auch ein hoher Prozentsatz von denen, die einer religiösen Gemeinschaft angehören, empfindet nur eine schwache Bindung an diese und deren Glaubensbekenntnis. Es handelt sich um die ‘High-Holiday-Jews’ und die ‘Christmas-and-Easter-only-Christians’, zu denen ich auch mich selbst zähle. Außer zu Hochzeiten, Beerdigungen und an großen Feiertagen gehen wir selten in die Kirche oder Synagoge. Als was sollten wir uns also selbst bezeichnen? Wie wäre es mit ‘MIAs’ —‚ Mitglieder in Abwesenheit (members in absentia)‘ oder vielleicht mit ‚bei Aktivitäten fehlende Mitglieder (missing in action; urspr. für „verschollen“)‘. Wir sind zwar mit den “Nones” nicht identisch, aber wir haben viel mit ihnen gemeinsam.
Die MIAs verstehen sich als mehr oder weniger spirituell, nicht jedoch als religiös. Wir geben unsere Konfessionszugehörigkeit an, obwohl sie uns nicht viel bedeutet. Gelegentlich erfreuen wir uns an der Musik und am sozialen Leben unserer Gemeinde. Wie die „nones“ unterscheiden auch wir uns in Hinblick auf die Erziehung, das Einkommen oder unseren sozialen Status nicht stark vom Rest der US-amerikanischen Bevölkerung. Wir sind in Bezug auf religiöse Institutionen und Enthusiasten zynisch geworden; und wir sind skeptisch gegenüber vielen Glaubensbekenntnissen und Dogmen. Wir wollen gute spirituelle Gefühle ohne die lange Geschichte von Fehlern und Heucheleien, die mit den organisierten Religionen verbunden sind.
Wenn wir die Zahl der ‚MIAs’ zu den „Nones“ addieren, erhalten wir die derzeit vermutlich größte ‚religiöse‘ Gruppe der USA. Diese neue, schweigende Mehrheit neigt zu einer in politischer und sozialer Hinsicht liberalen Einstellung. Sie billigt mehrheitlich vorehelichen Sex, Geburtenkontrolle, gleichgeschlechtliche Ehe und die Legalisierung von Marihuana, während die Religion als mit diesen Werten unvereinbar gilt. Diese Ergebnisse belegen auch andere Studien, die eine große Untersuchung über Konfessionslose einschließen, die vom Pew Forum on Religion & Public Life durchgeführt wurde. Konfessionslose betrachten sowohl religiöse Institutionen wie religiöse Menschen als konservativ in ihren Werten und in sozialer Hinsicht. Dass sie die Religion ablehnen, beruht daher auf politischen und nicht auf theologischen oder wissenschaftlichen Gründen. Die politische Überzeugung ist somit der beste Indikator dafür, ob eine Person in eine Kirche geht und welche Art von Kirche sie besucht.
Anstatt die Tatsache, dass liberale Modernisten die organisierten Religionen vermeiden, als Problem zu sehen, können wir diese Entwicklung auch als eine gute Gelegenheit für spirituelles Unternehmertum begreifen. Es bedeutet freilich weniger Kontinuität mit der Vergangenheit und einen größeren Austausch von Impulsen zwischen den Traditionen, gepaart mit einem ausreichenden Maß an spirituellen Winkelzügen.
3. Zum Verhältnis von Naturwissenschaft und Religion unter globaler Perspektive
Die Naturwissenschaft selbst erscheint als eine Art Epos, das wir als ‚Große Geschichte‘ bezeichnen. Es handelt sich um eine Erzählung, die unsere regionalen religiösen, nationalen und ethnischen Geschichten relativiert, indem sie sie in einen größeren Kontext einbettet.
Die neue evolutionäre Kosmologie muss daher frühere religiöse Kosmologien ersetzen. Diese können nach wie vor metaphorisch und metaphysisch interpretiert werden, wir können sie jedoch nicht mehr buchstäblich als Schilderung realer Ereignisse verstehen. Heilige Schriften wie ein naturwissenschaftliches Buch zu lesen bedeutet, einen riesigen, unverzeihlichen Kategorienfehler zu begehen.
Nicht nur selektiv einzelne Aspekte der Wissenschaften zu interpretieren, sondern sie als Ganze zu berücksichtigen, bedeutet einerseits, die mythische Natur unserer heiligen Schriften und Geschichten zu akzeptieren; andererseits gilt es zu bedenken, dass es Menschen aufgrund ihrer Natur schwer fällt, den neuen Universalismus, den die Naturwissenschaften mit ihrem globalen Anspruch fordern, zu begreifen. Die strengeren religiösen Glaubensrichtungen und Kulte schlagen die liberalen Strömungen oft aus dem Feld. Denn empirische, rationale und kritische Werte und Fakten haben nur eine begrenzte Anziehung auf dem globalen Markt der Religionen und Ideologien.
Den kritischen Realismus von Naturwissenschaft und Geschichte gar nicht einzubeziehen würde jedoch bedeuten, in ‚eine von Dämonen bevölkerte Welt‘ (,The Demon Haunted World’) zu geraten, wovor Carl Sagan in seinem letzten Buch eindringlich warnt:
„Wir haben eine globale Zivilisation errichtet, in der die meisten entscheidenden Elemente in hohem Maß von Naturwissenschaft und Technik abhängen. Gleichzeitig haben wir die Dinge so arrangiert, dass fast niemand Naturwissenschaft und Technik versteht. Daraus entsteht ein Rezept für Katastrophen. Wir könnten für eine Weile davon kommen, doch über Kurz oder Lang wird diese explosive Mischung aus Ignoranz und Macht auf uns selbst zurückschlagen.“
Die fünf Dämonen unserer schlechteren Seite sind, wie Steven Pinker detailliert darstellt, nach wie vor in der menschlichen Natur und der Welt gegenwärtig. Die Tatsache, dass die Gewalt im letzten Jahrhundert abgenommen hat, ist keine Garantie dafür, dass diese Entwicklung auch in Zukunft anhalten wird. Die schon erkennbaren Herausforderungen und Veränderungen des 21. Jahrhunderts werden die Menschheit und die Zivilisation stark belasten.
Wir sollten uns auch vor einer Politik, vor der Macht und vor Persönlichkeiten hüten, die auf eine vereinfachte Konvergenz von Naturwissenschaft und Religion zielen. Möglicherweise gibt es, obwohl beide in ihrer Einseitigkeit falsch sind, ein gesundes Gleichgewicht der Macht zwischen den derzeitigen Verkündern eines Szientismus und den religiösen Enthusiasten. Indem wir Naturwissenschaft und Religion vorschnell verbinden, vermehren wir vielleicht in der Tat die Arroganz, die sich allzu oft auf beiden Seiten findet. Wir müssen immer fragen, welche religiösen Strömungen, sowie ideologischen Projekte die Naturwissenschaften als Apologie nützen und warum.
Außerdem frage ich mich, ob die Universitäten und die Schulen sich dieser neuen Herausforderung stellen, so dass sie sich einerseits in Spezialisierung und Forschung so hervortun werden, wie sie es müssten, und andererseits etwas von dem zurückgewinnen, was bereits Humboldt in seinen Studien und Abenteuern vor über 150 Jahren geahnt hat: dass nämlich die Entdeckungen der Einzeldisziplinen letztlich eine einzige, zusammenhängende Geschichte bilden. Das Abenteuer freilich, das wir heute anbieten müssen, ist um Vieles größer als Humboldt es sich zu seiner Zeit vorstellen konnte.
Da Religionen in verschiedener Weise chauvinistisch missbraucht werden, bin ich verleitet, mit den Religionen abzuschließen. Aber gerade wegen meiner wissenschaftlichen Ausbildung und Weltanschauung bin ich mit der Religion noch nicht fertig, weil ich in der „Großen Geschichte“ eine phantastische Anknüpfung für Transzendenz finde.
Meine eigene emotionale und existentielle Antwort auf diese sich überlagernden, vielschichtigen Tatsachen und auf das sich manifestierende Wunderbare kann man treffend als „spirituell und religiös“ beschreiben. Angesichts der Einsichten der modernen Naturwissenschaften fühle ich mich von Ehrfurcht und Staunen erfüllt.
Ich denke daran, dass das Universum um ebenso viele Größenordnungen kleiner ist als ich so wie es seinerseits größer ist als ich.
Ich verstehe, dass ‚Ich’ ein emergenter Prozess bin, ein ausgedehntes, vernetztes Ereignis an einer privilegierten Position der Raum-Zeit, der Nexus einer starken Energiedichte und eines Informationsflusses, der seit Generationen weiter gereicht wird.
Ich dekonstruiere mein Selbst in die Familie, die Sprache, in die Kultur und den sozio-ökonomischen Status. Was meinen Geist am stärksten bewegt, kam meistens von ‚dort draußen’ – Erziehung und Ausbildung, die ich erhielt und Reisen, die ich unternommen habe, eingeschlossen.
Ich dekonstruiere meinen Körper in 214 Gewebetypen, Variationen einer gemeinsamen genetischen Identität, die in einem thermodynamischen Austausch mit der Umgebung durch Billionen von Zellmembranen und komplexen Zirkulationssystemen stehen.
Ich erinnere mich an zufällige Ereignisse, bei denen die Dinge einen anderen Verlauf hätten nehmen können. Ich fühle mich unglaublich glücklich, wenngleich mit einem leichten Anflug von Trauer. Wellen der Dankbarkeit überströmen mich, vor allem für die Nahrung, die ich erhalte. Ich werde auch nie in der Lage sein, für die Freundlichkeit, die mir Fremde und Freunde entgegenbrachten, etwas zurückzugeben. Ich erfahre das Universum als verschwenderische Großzügigkeit.
Obwohl diese dekonstruierenden wissenschaftlichen Meditationen über Körper und Selbst befreiend wirken, kehre ich immer wieder zu meinem Selbst und diesem Körper in dieser wunderbaren Welt zurück. Ich bin das Ergebnis zufälliger Ereignisse. Ich bin von Ehrfurcht erfüllt. Ich bin endlich angesichts der Unermesslichkeit der Welt und meiner Gefühle. Ich weiß viel, doch ich tue nur wenig. Ich suche bewusst nach Bequemlichkeit und der Möglichkeit, besser zu leben. Ich kann für mich selbst mit den Religionen und der Spiritualität nicht abschließen, so wie auch weltweit Religion nicht aussterben wird. Also müssen wir uns noch weiter mit den Großen Fragen der Ewigkeit beschäftigen.
In meinen Meditationen und Gebeten komme ich oft auf die Worte von Reinhold Niebuhr, einem amerikanischen Theologen des 20. Jahrhunderts, zurück:
„Nichts von dem, was es wert ist getan zu werden, wird während unserer Lebenszeit vollendet; deshalb müssen wir durch die Hoffnung errettet werden. Nichts von dem, was wahr, schön oder gut ist, enthüllt seinen vollständigen Sinn inmitten eines historischen Kontextes; deshalb müssen wir durch den Glauben errettet werden. Nichts von dem, was wir tun, wie rechtschaffen es auch sein mag, kann allein vollbracht werden; deshalb werden wir durch die Liebe errettet.“
Glaube, Hoffnung und Liebe sind notwendig, um den existentiellen und praktischen Herausforderungen unseres Lebens und der Welt gewachsen zu sein. So vertrauen wir auf die Zukunft und in eine höhere Macht und eine Form, die in uns und durch uns wirkt, um eine schönere, friedlichere und gerechtere Welt zu erschaffen. Nennen wir sie „Gott-mit-welchem- Namen-auch-immer“. Diese Intuition der Transzendenz hilft dabei, unserem Leiden und unserem unvermeidlichen Tod einen endgültigen Sinn zu verleihen, den wir nie vollständig ergründen können, der uns aber doch im Alltagsleben vertraut ist. Wir entdecken neue Sinndimensionen in den heiligen Schriften und in einer Frömmigkeit, die wir mit anderen teilen.
Die Erzählung, die die Interpretation der Religionen heute leiten muss, beruht auf der neuen Sicht der Wirklichkeit, wie sie die Naturwissenschaftler der verschiedenen Disziplinen enthüllen. Die alten Mythen und Praktiken der großen Traditionen mögen tiefsinnig sein, aber sie sind nicht im selben Sinne wahr wie Naturwissenschaft und Geschichte. Unsere globale Zivilisation benötigt dringend eine gemeinsame Vorstellung von Wirklichkeit, auch wenn wir über die genaue Interpretation der neuen wissenschaftlichen Metaerzählung noch uneins sind.
Die ‚Große Geschichte’ ist ein Webstuhl, auf dem wir die zahllosen Fragmente unseres mühsam erworbenen Wissens und Könnens zusammenfügen können. Der Gobelin ist erstaunlich schön und kompliziert. Das Gewebe hat eine unvorstellbare Tiefe und ist äußerst detailreich. Die Muster sind eine beeindruckende Mischung aus Ordnung und Unordnung. Außerdem besitzt dieses Gewebe eine hierarchische Struktur, die aus unermesslichen Zeiträumen, Größen und Strukturen wachsender Komplexität gebildet wird. Es ist ein magischer Teppich, der die Entwicklung der Menschheit auf einem gänzlich zufälligen Planeten ermöglichte. Unsere Spezies ist nun in das Gewebe dieses Teppichs eingewoben, so dass wir an der Gestaltung seiner Zukunft fortan teilnehmen.
Möge dieses Epos der Evolution, der Entdeckung und der Kreativität zu den geologischen Zeitskalen unserer gemeinsamen Zukunft hinzugefügt und niemals vergessen oder durch sie verkleinert werden. Es ist lebensnotwendig, dass wir diese neue Geschichte unseren Kindern und uns selbst erzählen, so dass wir gemeinsam eine gesündere, sicherere und fruchtbarere Zukunft gestalten können. Die Geschichte der Evolution, von Entdeckung und Kreativität, von der wir nun erfahren haben, ist die Krönung des menschlichen Bemühens, und, jedenfalls soweit wir das jemals wissen können, des gesamten Universums.
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William Grassie ist Gründer und geschäftsführender Direktor des Metanexus Instituts. Er promovierte in Religionswissenschaft an der Temple Universität und erhielt den Bachelor-Abschluss in Politik am Middlebury College. 1983 war er bei der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e.V. in West Berlin als Mitarbeiter angestellt. Grassie ist Autor von The New Sciences of Religion: Exploring Spirituality from the Outside In and Bottom Up (Palgrave, 2010). Er wohnt in New York City.